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Missbrauchsskandal erschüttert Sport-Schweden

Verfasst: 29. April 2011 12:40
von Karsten
Das Buch des ehemaligen Hochsprung-Weltmeisters Patrik Sjöberg hat Schwedens Sportwelt aus den Fugen gehoben. In dem Buch, das am heutigen Donnerstag erscheint, spricht Sjöberg zum ersten Mal über die sexuellen Übergriffe seines Trainers und Ziehvaters Viljo Nousiainen. Auch andere Elite-Hochspringer packen nun aus. Beim Sportbund bemüht man sich um Beschwichtigung.

Missbrauchsskandal: ”99,9% der Trainer sind seriös”
Am 30. Juni 1987 holte Patrik Sjöberg mit 2,42 m den Weltmeistertitel im Hochsprung. Bis heute ist Sjöberg damit Weltranglisten-Zweiter. Zum Erfolg führte ihn neben der eigenen Leistung sein Trainer und Ziehvater Viljo Nousiainen. Auch nach seinem Tod 1999 gilt Nousiainen in Schweden noch immer als Trainerlegende: Neben Sjöberg trainierte er unter anderem Yannick Tregaro, Stefan Holm und Dreispringer Christian Olsson.

Nun die erschütternden Enthüllungen: Während Nousiainen die jungen Männer zum internationalen Erfolg brachte, soll er sich an mehreren von ihnen jahrelang sexuell vergangen haben.

„Er nannte das wissenschaftliche Tests", erzählt Patrik Sjöberg im Schwedischen Rundfunk. „Als Sportler war man gezwungen, den Körper auf verschiedene Weisen zu messen. Dazu gehörten auch Sperma-Tests für einen besseren Trainingspuls. Über Wochen sollten verschiedene Muskeln mit verschiedenen Massagen gemessen werden."

Sjöberg war längst nicht der einzige junge Sportler, den Nousiainen für seine zweifelhaften Trainingsmethoden missbrauchte. Der norwegische Hochspringer Christian Skaar Thomassen packt in Sjöbers Buch ebenfalls aus. Auch Yannick Tregaro, der heute selber Leichtathletiktrainer ist, gehört zu den Opfern. Im Schwedischen Rundfunk berichtet er: „Es fing an, als ich 12, 13 Jahre alt war. Meine Eltern hatten zu Hause Probleme und deshalb hielt ich mich mehr an Viljo. Erst mit zunehmendem Alter habe ich verstanden, was da überhaupt los war.

Irgendwie habe ich mich selbst schuldig gefühlt und mich auch geschämt. Statt ihn anzuprangern, habe ich ein Scheinbild von Viljo geschaffen und ihn richtiggehend glorifiziert."

Holm: „Ich dachte, ich kenne die Jungs"

Viljo Nousiainens Ruf war zu Lebzeiten unbeschadet - keiner der Betroffenen wagte an seinem Thron zu rütteln. Wie so oft in Missbrauchsfällen verdrängten die Opfer das Geschehene oder suchten die Schuld bei sich selbst. Niemand erfuhr von den Übergriffen, selbst die engsten Teamkollegen waren ahnungslos. Hochspring-Star Stefan Holm reagierte betroffen auf die Enthüllungen.

„Ich hatte 20 Jahre lang engen Kontakt mit Yannick und den anderen. Wir waren zusammen mit Viljo in Trainingslagern und haben dort mit ihm trainiert, und da war nie irgendwas Komisches. Für mich ist das völlig befremdlich. Ich habe das auch noch gar nicht ganz verarbeitet und bin schockiert. Ich dachte, ich kenne die Jungs, aber ganz offensichtlich ist dem nicht so."

Patrik Sjöberg wendet sich in seinem Buch ausdrücklich an die Sportverbände. Die Trainer ganz allgemein würden viel zu wenig kontrolliert, meint der Hochspringer, und Stefan Holm gibt ihm ein Stückweit Recht.

„99,9 Prozent sind seriös und tüchtig"

„Die Sportbewegung fußt auf dem ehrenamtlichen Einsatz Einzelner, und man ist dankbar für jeden, der in seiner Freizeit als Trainer arbeitet und sich um die Kinder kümmert. Dabei ist es schwierig, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. So ist das wohl in vielen Bereichen, zum Beispiel im Kindergarten. Aber sicher könnten die Kontrollen besser sein, das können sie wohl immer."

Die Vorsitzende des Schwedischen Sportbundes, Karin Mattsson Weijber, bedauerte das Vorgefallene, und betonte, dass der Verband seit einiger Zeit daran arbeite, Zugang zum Vorstrafenregister zu bekommen, um Trainer besser kontrollieren zu können. Auch die Richtlinien sollen in Kürze überarbeitet werden.

„Unsere Policy ist bisher eher von Richtung weisendem Charakter. Sie gibt Trainern und Vereinen, die es wollen, eine deutlichere Hilfe. Ich denke, dass die Enthüllungen nun allen die Augen öffnen und jeder aufmerksamer ist."

Welche Auswirkungen der Missbrauchsskandal auf Schwedens Sportwelt haben wird, vermag niemand abzusehen. Der Vorsitzende des Schwedischen Leichtathletikverbandes, Lars Karlberg, forderte die einzelnen Vereine zu verstärkten Kontrollen auf, fand im Schwedischen Rundfunk aber auch beschwichtigende Worte.

„Die Trainer sind oftmals Ersatzväter und Idol für die Kinder und Jugendlichen. Das Geschehene hätte natürlich viel eher ans Licht kommen müssen, um den Schaden zu begrenzen. Wir haben eine große Verantwortung, nicht zuletzt im Bereich der Ausbildung. Fragen der Ethik und des Umgangs mit Kindern spielen eine große Rolle. So ein Fall wie dieser könnte vielleicht auch heute durchrutschen, wir können also bei den Kontrollen sicher besser werden. Aber von den 600.000 Menschen, die sich im Sportbereich als Trainer oder in anderer leitender Funktion engagieren, sind 99,9 Prozent tüchtig und seriös."

(Quelle: Radio Schweden)

Sjöberg hat Viele zum Reden ermutigt

Verfasst: 28. Juli 2011 00:56
von Karsten
In seinem Buch „Det du inte såg“, oder zu deutsch „Was du nicht gesehen hast“ schildert der schwedische Leichtathlet Pratrick Sjöberg seine Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch. Sein Trainer und Stiefvater hatte sich jahrelang an ihm vergriffen und erst Jahre nach dessen Tod brach Sjöberg sein Schweigen. Sein Buch und die intensive Berichterstattung in den Medien haben anderen Mißbrauchsopfern geholfen, ihr Schweigen zu brechen.

"Viele haben Schlimmeres erlebt"
Die Reaktionen auf das Buch des Leichtathleten Sjöberg ziehen laut Birgitta Holmberg von der Hilfsorganisation „Angehörige sexuell ausgebeuteter Kinder“, kurz ATSUB, weite Kreise. Seitdem hätten sich viele Jungen an das Krisentelefon der Organisation gewandt, um zum ersten Mal von eigenen Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen zu berichten, so Holmberg.

„Ich habe festgestellt, dass viele Jungs davon erzählen, dass sie sich prostituiert haben oder Übergriffen älterer Männer ausgesetzt waren, mit denen sie oft über das Internet Kontakt aufgenommen hatten. Das hat meiner Ansicht nach stark zugenommen. Pro Woche führen wir etwa drei solcher Gespräche. Für unsere Organisation ist das etwas völlig Neues.“

Die Organisation gibt es bereits seit 1993. Seit einigen Jahren betreibt sie ein kostenfreies Beratungstelefon für Kinder und Jugendliche. Normalerweise nutzen Mädchen die Beratungshotline häufiger als Jungen. Doch bemerkenswert ist nicht nur, dass jetzt mehr Jungen anrufen. Auch die Erlebnisse, von denen sie berichten, sind neu für die Beratungsstelle. Birgitta Holmberg glaubt an einen Zusammenhang damit, dass Leichtathlet Patrick Sjöberg sein Schweigen gebrochen hat. In Medieninterviews über sein Buch hatte er die Hoffnung geäußert, dass sich nun mehr Jungen trauen, über Missbrauchserlebnisse zu sprechen.

„Dass ein Patrick Sjöberg sein Schweigen bricht, wirkt auf die Jungs.“

„Ich glaube das hat große Bedeutung. Patrick Sjöberg ist ein Held für viele – groß und stark – und wenn so jemand sich traut und von seinen Erlebnissen erzählt, dann können sich auch andere trauen. Ich denke dass wir Jungs häufig dazu erziehen, dass sie keine Opfer sein sollten, nicht weinen, sich nicht schlecht fühlen sollen. Sie sollen groß, stark und Machos sein. Dass ein Patrick Sjöberg sein Schweigen bricht, wirkt auf die Jungs.“

Einige der Jungen, die sich an das Beratungstelefon wenden, berichten davon, dass sie sich im Internet mit älteren Männern verabredet hätten, die sie dann für sexuelle Handlungen bezahlten. Birgitta Holmberg stellt aber fest:

„Die Jungen haben oftmals schon vorher schlimme Dinge erlebt. Viele sind schon Übergriffen ausgesetzt gewesen. Oder sind etwa in einer nicht funktionierenden Familie aufgewachsen. Einige haben auch davon gesprochen, in der Schule gemobbt worden zu sein. Und einige haben Schlimmeres erlebt.“

Birgitta Holmbergs Organisation hilft den Kindern und Jugendlichen durch konkrete Hilfestellung zum Beispiel dabei, Täter anzuzeigen oder einen Anwalt zu finden. In erster Linie aber ginge es darum, mit den jungen Menschen zu sprechen, vor allem über Schuld, so Holmberg.

(Quelle: Radio Schweden)